Die Stadt, das Ich und die Zukunft

35 Posted by - 10. Juni 2015 - Protagonisten

Seit ein paar Jahren schon leben mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung in der Stadt – die urbane Erfahrung ist lange schon keine wilde Ausnahme von der Regel mehr, sondern für Millionen von Menschen ganz natürlicher Lebensraum und vor allem Alltag. Trotzdem ist die Stadt als Utopie, als Versuchslabor, auch ein Sehnsuchtsort geblieben. Was aber genau wollen und brauchen wir im urbanen Raum? Wie können Stadtplaner und Künstler uns dabei helfen? Was machen wir am besten selbst? Und wie unterscheiden sich Großstädte? Kann Berlin von Caracas lernen?

Gemeinsam mit Jochen Overbeck habe ich diese und viele andere Fragen einem gestellt, der es wissen muss: Architekturforscher, Kurator und Autor Lukas Feireiss.

Entstanden ist das Interview für das neue Magazin me.URBAN, das sich mit der urbanen Kultur und dem Lebensgefühl Stadt beschäftigt.

BETONDELTA: Du bist in Berlin geboren und aufgewachsen, aber hast in vielen anderen Städten gelebt.

LUKAS FEIREISS: Ja, ich bin in Charlottenburg geboren und in Steglitz aufgewachsen und habe später ein paar Jahre in Rotterdam und Amsterdam gelebt, sowie in Rom und Wien. Mit 16 war ich als Austauschschüler für ein Jahr in Los Angeles. Alle Städte haben mich auf ihre eigene Weise fasziniert, aber es ist natürlich auch immer ein bisschen Zufall, an welche Orte es einen im Leben verschlägt. Mein Zuhause ist immer Berlin geblieben. Am Ende ist es ja immer das soziale Netzwerk, was eine Stadt zu einem Zuhause macht. Das und dieses Gefühl sich blind auszukennen. Entstehen tut das vor allem, wenn man bestimmte Plätze mit Erinnerungen verbindet – wenn sich also ein persönliches Narrativ durch die Stadt zieht.

Lukas Feireiss in seinem Kreuzberger Büro. Foto: Trevor Good.

Lukas Feireiss in seinem Kreuzberger Büro. Foto: Trevor Good.

 

 

 

„Ich sehe mich als Teil einer urbanen Generation.“

 

 

 

 

 

 

 

 

Stadt war also immer schon natürliche Umgebung für dich?
Ich sehe mich sogar als Teil einer urbanen Generation. Das hat sich in den letzten hundert Jahren sehr verändert: Von unseren Großeltern sind noch nicht so viele in Städten großgeworden, heute sind es die meisten und für unsere Kinder wird das noch viel natürlicher sein.

Berlin, Los Angeles, Rom – wie hast du die Unterschiede der Städte erlebt, in denen du gelebt hast?

Die Unterschiede sind das, was es spannend macht. Stadt ist immer Stadt und es ist doch immer anders. Es gibt immer Grundstrukturen, die man wiedererkennt, und trotzdem besitzt jede Stadt eine eigene Sprache. L.A. zum Beispiel ist vor allem zu faszinierend wegen der enormen Weite. Berlin ist zwar auch groß, aber besser verbunden. L.A. dagegen ist eine Stadt, die ohne Auto gar nicht denkbar oder erfahrbar ist. Eine geradezu utopischer Ort, an dem alles für das Auto ausgelegt ist: eine Automotive City. Der Einfluss der Fahrzeuge auf die urbane Struktur könnte deutlicher nicht sein.

Automotive City: Los Angeles

Automotive City: Los Angeles ist ohne Auto nicht erfahrbar.

Ganz anders Rom – eine Stadt, bei deren Entstehung das Auto noch in weiter Ferne lag.

Ja, der Unterschied könnte größer kaum sein. L.A. auf der einen Seite als junge Stadt, als Stadt ohne Erinnerung, ohne Vergangenheit, die immer wieder abgerissen und neu aufgebaut wurde. Und auf der anderen Seite Rom, wo die Vergangenheit an jeder Ecke spürbar ist. Wo es so viel Altes gibt, dass Neues nur schwer entstehen kann.

Und dann haben wir Rotterdam – eine Stadt, bei der man das Gefühl hat, dort entwickelt sich gerade ihre ganz eigene Vorstellung von Architektur. Projekte wie der Hauptbahnhof wirken mutiger, bunter, sehr eigen. 

Stimmt, in dieser Hinsicht sind die Holländer viel risikofreudiger als die Deutschen. Architektur und Design haben in den Niederlanden grundsätzlich einen viel größeren Stellenwert. Architektur und Städtebau sind dort nicht nur Infrastrukturprojekte, sondern werden als kulturelle Beiträge zur Gesellschaft verstanden. Das wirkt sich natürlich aufs Stadtbild aus. Rotterdam ist als Einwanderungsstadt zudem eine extrem durchmischte und heterogene Stadt.

Wenn man Berlin betrachtet, sieht man ja alle möglichen Ideen der Stadtplanung. Das beginnt beim Hobrecht-Plan, verantwortlich für viele Strukturen der Stadt, zieht sich über die Siedlungen der Moderne, die versuchten alte Fehler wiedergutzumachen, hin zu Mustersiedlungen der Nachkriegsmoderne, wie das Hansaviertel oder die Gropiusstadt und endet in neuen Projekten, wie dem Park am Gleisdreieck. Wie lange aber dauert es zu erkennen, ob eine stadtplanerische Vision funktioniert?  

Viele der Nachkriegsmodelle hatten ja einen sehr utopischen Ansatz. – gerade im Bereich Sozialer Wohnungsbau. Bei manchen hat man schnell gemerkt, dass sie nicht funktionieren: Das Housing Project Pruitt-Igoe in den USA zum Beispiel, als Schritt in die Zukunft gedacht, gilt als eine Art Endpunkt des modernen Wohnungsbaus. Nach fünf Jahren war es schon völlig heruntergekommen und wurde abgerissen. Bizarrerweise wurde es von demselben Architekten gebaut, der auch die Twin Towers in New York gebaut hat – der also für zwei Türme verantwortlich ist, die gerade durch ihren Einsturz in die Geschichte eingegangen sind. Es gibt aber auch ganz andere Beispiele: Nehmen wir das Hansaviertel: Eigentlich auch nach den Maßstäben des sozialen Wohnungsbaus gestaltet, wohnen dort viele, die sich wie Kunstsammler verstehen, was Wohnungen angeht: Akademiker und Intellektuelle, die eine Wohnung von Alvar Aalto oder Oscar Niemeyer haben wollen. Der Nutzungsgedanke hat sich verändert.

Das ist für mich einer der Aspekte, die für mich gute Architektur ausmachen: Nachhaltigkeit, die sich nicht in Solarzellen oder Green Rooftops ausdrückt, sondern in einer Langlebigkeit durch Anpassung an neue Nutzungen.

Gescheitertes Housing Project: Pruitt-Igoe, Missouri, beim der Sprengung.

Gescheitertes Housing Project: Pruitt-Igoe, Missouri, beim der Sprengung.

In den letzten Jahren hat man immer mehr das Gefühl, als wäre die Vorstadt in eine Krise geraten. Wer es sich früher leisten konnte, zog aus der Stadt wieder raus in die Vorstädte. Heute ist das nicht mehr so selbstverständlich.

Stimmt, aber das war damals auch ein Riesenunterschied: Oft waren ja gerade die Inner Cities die gefährlichen Gebiete wie in New York vor 50 Jahren – die Innenstädte waren Problem Areas, vor denen man floh. Heute gewinnen Innenstädte ja immer mehr an Wert. Das hat sich in den letzten zwanzig Jahren sehr gewandelt. Trotzdem beobachte ich die Sehnsucht, wieder aus der Stadt raus zu ziehen immer noch in meinem Freundeskreis. Gerade wenn Kinder ins Spiel kommen, wird die Peripherie wieder attraktiver für viele. Ich glaube sogar, dass diese Entwicklung noch zunehmen wird, weil die Menschen in den Außengebieten nach dem suchen werden, was sie früher in den Städten gesucht haben: Möglichkeitsräume. Dem Blick zurück aufs Hinterland bemerke ich auch langsam vermehrt im urbanen Diskurs.

Gleichzeitig hat man den Eindruck, dass in der Stadt eine Sehnsucht nach ländlichen Strukturen herrscht: Regionales und Handgemachtes, Urban Gardening und Heimeligkeit im eigen Viertel. Woher kommt dieses Bedürfnis?

Ich glaube, der Mensch hat immer, egal ob er in einer Großstadt lebt oder nicht, ein Bedürfnis nach vertrauten Strukturen – nach Nähe, wenn man so will. Und gerade diese Sehnsucht spricht Berlin ja auf schöne Weise an: Eine große Stadt, aber von der Grundstruktur her mit den vielen Kiezen fast dörflich. Alles, was ein Mensch braucht und was in einer Kleinstadt vorhanden wäre, hast du hier in einem einzelnen Bezirk. In einer modernen urbanen Gesellschaft hat natürlich alles Kleinteilige, alles Individuelle einen besonderen Wert.

Hansaviertel, Berlin, Wohnhaus von Walter Gropius. Foto: Manfred Brückels

Im Berliner Hansaviertel solte nach dem Krieg neues Leben durch neue Ideen entstehen. Walter Gropius-Wohnhaus. Foto: Manfred Brückels

Wie lange dauert es überhaupt von der ersten Städtebau-Idee bis zu einem fertigen Bau?

Dafür muss mit mindestens fünf Jahren gerechnet werden, es ist aber auch nicht ungewöhnlich, dass sich Projekte über zehn oder mehr Jahre hinziehen. In dieser Zeit verändert sich die Umgebung ja auch. Das ist vielleicht auch das Besondere an der Architektur als künstlerische Disziplin: dass sie einen so starken zeitlichen Faktor hat.

Das futuristische Moment ist quasi per se eine Teil der Architektur.Weil sie immer in die Zukunft denken muss, in der eine Gebäude dann stehen wird. Das ist ihre große Herausforderung.

Kann Stadtplanung denn in gewisser Weise auch regulierend in soziale Konflikte eingreifen – etwa die Bewohner aus den Randgebieten in das öffentliche Leben der Stadt hineinholen?

Solche Möglichkeiten gibt es auf jeden Fall. Ganz allein aber kann Architektur soziale Konflikte nicht lösen. Jeder Architekt trägt eine sehr große Verantwortung, keine Frage. Die Gebäude, in denen du lebst, prägen dich. Aber Architektur kann nicht für soziale Missstände verantwortlich gemacht werden.

Das war in der Nachkriegsmoderne genau der Denkfehler: Nach dem Krieg wollte man alles neu denken, wollte Ideen, die universell gültig sind. Man dachte, gute Architektur bringt quasi wie von selbst gutes Leben hervor. Aber das konnte nicht funktionieren. Die einzig sinnvolle Idee ist es, innerhalb der Architektur Möglichkeitsräume offen zu lassen: Freistellen, die die Bewohner selbst besetzen können.

Ein gutes Beispiel dafür ist Superkilen, ein öffentlicher Park, der vor ein paar Jahren in Kopenhagen eröffnet wurde: Bjarke Ingels hat dort mit Topotek1, einer Gruppe Berliner Landschaftsarchitekten, in einem multiethnischen Bezirk einen langgezogenen öffentlichen Raum kreiert. Ein starker, prägnanter Ort, der aber dennoch eine große Flexibilität besitzt, was seine Nutzung angeht.

Superkilen Park, Kopenhagen (Bjarke Ingels Group), Foto: Forgemind ArchiMedia

Flexibler Raum: Superkilen Park in Kopenhagen (Bjarke Ingels Group). Foto: Forgemind ArchiMedia

Es gibt also keine universellen Lösungsansätze, weil jeder Ort anders funktioniert?

Ja, genau. Wenn man nur einmal an eine Stadt wie Mumbai in Indien denkt: Eine Stadt, deren Grundstruktur stark durch die westliche Kolonialherrschaft geprägt ist, in der man aber eine ganze andere Vorstellung von Raum und ihrer Aneignung hat. Du erkennst dort die Straßenstrukturen, so wie du sie aus Europa kennst, aber so wie in ihnen gelebt wird, das hat nichts mehr damit zu tun. Der Bürgersteig ist eigentlich kein Bürgersteig, sondern eine riesengroße Handelsfläche für Märkte. Die Leute schlafen auch auf der Straße. Die gelebte Realität ist dort so anders, dass das Grundgerüst neu belebt wird.

In Mumbai funktioniert Stadt ganz anders als in Europa.

In Mumbai funktioniert Stadt ganz anders als in Europa.

Es begegnen einem ja immer wieder diese Zahlen: Seit 2008 leben mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung in Städten. Oder: 70 Millionen Menschen ziehen jedes Jahr in Städte – die größte Massenbewegung in der Geschichte der Menschheit. Wie reagieren Stadtplaner auf solche Herausforderungen?

Ich glaube, dass das nur funktionieren kann, wenn man anfängt utopisch zu denken. Gute Lösungsansätze entstehen vor allem, wenn man die Realpolitik für einen Moment außen vor lässt. Sie regen die Fantasie an.

Aber braucht es nicht vor allem auch Architekten, die die Verhältnisse kennen? Man hat ja oft das Gefühl, dass Stadtplanung gerade in Schwellen- und Entwicklungsländern zu westlich konnotiert ist, auch wenn die Lebensweisen ganz anders sind, wie du am Beispiel Mumbai schon erklärt hast.

In diesem Punkt wird gerade viel gelernt. Man muss immer den Lokalen Kontext begreifen: den Genius Loci. Sehr oft können westliche Maßstäbe nicht einfach übertragen werden. Gute Architekten verbringen erstmal etwas Zeit in einer Stadt, bevor sie dort bauen.

Ein großes Problem im Hinblick auf Megacities ist die zunehmende Armut: Eine Milliarde Menschen leben heute in Slums und Favelas. Mitte des Jahrhunderts werden es drei Milliarden sein – ein Drittel der Weltbevölkerung. Wie wirkt sich das auf die Stadtplanung aus?

Es gibt sehr schöne Projekte von Hubert Klumpner und Alfredo Brillenbourg’s Urban-Think Tank, die sich stets mit der Frage beschäftigen, was man von der informellen Stadt lernen kann. Das ist heute ein bestimmende Frage, wie und was man vom Globalen Süden lernen kann. Dort liegen die wahren Herausforderungen der Zukunft: In Südostasien, Südamerika und Afrika. In Caracas gibt es zum Beispiel ein riesiges leerstehendes Hochhaus, den Torre David: Eine Bauruine eigentlich, die die Leute einfach besetzt haben. So ist dort eine selbstverwaltete, vertikale Favela entstanden – eine ganz besondere Form des Zusammenlebens. Ziel muss es sein, eine Balance zu finden zwischen dieser informellen Ausbreitung und zu formeller Stadtplanung.

Leben in einer vertikalen Favela: der Torre David in Caracas.

Leben in einer vertikalen Favela: der Torre David in Caracas.

Architektur ist bei uns in Europa ja etwas sehr statisches. Wenn ein Haus gebaut wird, dann wird es auf mindestens 50 oder 60 Jahre angelegt. Helfen aber vielleicht temporäre Lösungen viel besser als permanente?

Ja, gerade in sozial kritischen Gebieten. Solche Ansätze verändern den Ort auf ganz neue Weise und können ihn so neu beleben. Es geht nicht um diesen Build to Last-Gedanken, sondern eher um eine Katalysator-Funktion. Temporäre Projekte können ja viel spontaner auf den urbanen Kontext reagieren und so neue Ideen anschieben. Oft sind diese Projekte auch stark partizipativ angelegt. Es geht darum die Bewohner direkt anzusprechen und dabei die 5 Jahre Planungsphase zu überspringen, direkt zu agieren und direkt Feedback zu bekommen.

Was kann der Bewohner, der Mensch, selbst machen, um die Stadt nach seinen Vorstellungen zu gestalten?

Eine wichtige Frage, weil man Städter an der Stadt teilhaben lassen muss. Dass sie sich die Stadt auch von ganz alleine erobern, das ist ein ganz natürlicher Prozess. Wir machen das jeden Tag, wenn wir uns durch die Stadt bewegen. Wichtig sind in diesem Zusammenhang zwei Phänomen der urbane Jugendkultur: Skateboarding und Graffiti.

Der Skateboarder hat den öffentlichen Raum ganz neu gedacht. Das ist kein bewusster, theoretischer Zugang zur Stadt sondern ein ganz praktisch-intuitiver Ansatz: Wo kann ich skaten, wo nicht.

Viel wichtiger noch ist die Graffiti-Kultur, die sich die Stadt auf ganz besondere Weise zueigen macht. Für mich war das prägend: Zu wissen, dass man Einfluss nehmen kann, dass man sein Zeichen hinterlassen kann – das bedeutet überall Möglichkeitsräume zu sehen. Wir alle sind die unbewussten Erben der Situationisten!

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Lukas Feireiss. Foto: Trevor Good

Foto: Trevor Good

Lukas Feireiss ist Kurator, Autor, Dozent, Künstler und beschäftigte sich in verschiedenen Publikationen mit urbaner Architektur im kulturellen und visuellen Kontext. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Das ausführliche Gespräch mit Feireiss findet ihr im in neuen Magazin me.URBAN, das man hier bestellen kann.

Eine schöne Ausstellung zum Thema Berliner Architektur der 60er Jahre gibt es gerade in der Berlinischen Galerie: „Radikal Modern“ gibt einen guten Überblick über Stadtplanung in Ost- und Westberlin und läuft noch bis zum 26.10.2015.

 

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