Die Klonkrieger des Neoliberalismus

534 Posted by - 25. September 2014 - Protagonisten

Heute regieren wieder die Reichen und Mächtigen, sagt Michael Hirsch. Uns wird noch vorgespielt, dass es um die Gleichheit von allen geht. Dabei leben wir schon längst in einer Oligarchie vergleichbar mit der im 19. Jahrhundert. Wir nennen sie heute nur alternativlos statt gestaltend einzugreifen. Die Alternative könnte aber ein gutes Leben sein, in dem wir nicht nach mehr Geld und Macht streben und darüber Anerkennung und Einfluss erreichen, sondern ein gutes Leben, in dem ALLE die Zeit und den Raum haben, mitzugestalten, gemeinsam. Zeit für Freunde und Familie, für kreative Weiterentwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir leben gnadenlos unter unserem Niveau und verehren, was uns und unsere Umwelt zerstört.

Interview mit dem Philosophen Michael Hirsch über sein Manifest: „Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen“, erschienen im Louisoder Verlag.

BETONDELTA: Sie kritisieren in Ihrem Manifest die marktkonforme Demokratie. Was verstehen Sie darunter?

MICHAEL HIRSCH: Wir leben im Übergang zu einer neoliberalen Epoche. Das, was man mal soziale Marktwirtschaft genannt hat, kennt relativ starke politische Regulierungsinstrumente. Die jetzige Ordnung ist dagegen stark durch Marktzwänge, vor allem internationaler Art, gesteuert. Es wird auch politisch zunehmend kommuniziert, dass es keine Alternative gäbe. Wenn man sich diesen bestimmten, äußeren Zwängen unterordnet, führt das zur Erosion der ganzen demokratischen Veranstaltung.

Was ändert dieser Epochenwechsel für uns?

Die Idee der sozialen Marktwirtschaft ist: Wohlstand für alle. Das sollte über Wirtschaftswachstum, Arbeitsplatzsicherung und einer Nivellierung von sozialen Unterschieden erreicht werden. Diese Ordnung wurde aber vor zehn oder fünfzehn Jahren aufgegeben und seitdem erleben wir gravierende soziale Unterschiede. Man geht davon aus, dass dieses Projekt der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr kompatibel ist mit denjenigen kapitalistischen Strukturen, in denen wir heute leben.

Alle großen Parteien in allen westlichen Ländern haben sich im Prinzip damit abgefunden. Und in diesem Moment gehen wir in eine oligarchische Gesellschaftsordnung zurück wie sie vor der Einführung der Demokratie und vor der Einführung von großen Sozialversicherungssystemen und progressiver Besteuerung existiert hat – Typ 19. Jahrhundert könnte man sagen.

Was bedeutet das: Typ 19. Jahrhundert?

Es gibt eine sehr selektive Interessenpolitik. Diese Gesellschaftsordnung dient nur ganz bestimmten Teilen der Gesellschaft. Ablesen lässt sich das beispielsweise an zwei Phänomen.

Zum einen sind die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten von Bildung, Einkommen und Vermögen wieder ungefähr auf dem Stand von vor 100 Jahren. Insofern könnte man die Reduzierung von Ungleichheit, die damals in Gang gesetzt wurde, als gescheitert erklären. Viele Kommentatoren tun aber immer noch so, als ob wir eine kleine Krise hätten. Die Demokratie als gesellschaftliches Projekt, in der Form, wie sie gedacht wurde, aus einer Mischung von sozialer Gleichheit und demokratischer Beteilung, ist aber tot.

Zum anderen schlägt sich das jetzt in dramatisch gesunkenen Wahlbeteiligungen in unteren Bevölkerungsgruppen nieder. Das sind quasi genau die Leute, die früher sowieso nicht wählen durften. Sie wählen heute freiwillig nicht mehr, haben sich verabschiedet, weil sie zu Recht den Eindruck haben, dass ihre Interessen in diesem Typ marktkonformer Demokratie gar nicht mehr repräsentiert werden.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts, vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, war die Argumentation, warum man den Frauen oder unteren Bevölkerungsklassen das Wahlrecht nicht zugesteht, dass sie durch die Herrschenden bzw. ihre Ehemänner oder durch ihre Eltern vertreten werden.

Man dachte früher, es wäre schädlich, wenn man alle mitbestimmen lässt, weil die gar nicht wissen, was gut ist.

Das ist die Reinform der ökonomischen Trickle-down-Theorie: Man sagt, wir senken die Steuerlast für Vermögende und machen gute Investitionsbedingungen, weil wir darauf spekulieren, dass dann für alle was abfällt. Wenn ein Unternehmen gute Geschäfte macht, gehen wir davon aus, dass das auch den Arbeitnehmern und ihren Familien zu Gute kommt. Eine vulgäre wirtschaftspolitische Doktrin, würde ich das nennen und sie entspricht ungefähr der Doktrin des Frühindustrialismus. Man dachte früher, es wäre schädlich, wenn man alle mitbestimmen lässt, weil die gar nicht wissen, was gut ist.

Demokratie gibt es nur als expliziertes Projekt der radikalen Verringerung sozialer Unterschiede. Demokratie ist ein Projekt zur Abschaffung von solchen Verhältnissen, in denen einige Menschen unmündig sind und andere nicht. In denen manche Menschen per se abhängig sind vom Willen anderer. Egal ob das jetzt mein Ehemann ist als Frau oder der Arbeitnehmer, der von der Gnade des Investors oder Unternehmers abhängig ist, der diesen Arbeitsplatz vielleicht noch fünf Jahre weiter laufen lässt. Es geht um die Abschaffung dieser Arbeitsverhältnisse als solcher, die Ungleichheit produzieren und Abhängigkeit von anderen.

 

Bildquelle: Lisa Picard / Flickr

Warum protestieren wir nicht mehr gegen diese Ungleichheiten?

Ich würde das als einen paradoxen Bewusstseins-Modus beschreiben: Wir beklagen uns über soziale Ungleichheiten, Verwerfungen aller Art, Ausplünderungen der Natur, Ausbeutung der dritten Welt, Imperialismus. Aber die Ursache von ungebremster kapitalistischer Akkumulation, von all diesen ökologischen, sozialen und anderen Verwerfungen, verehren wir. Das ist unser Gesellschaftsmodell. Wir regen uns nur reaktiv, resignativ über diese Phänomene auf. Die Medien übernehmen beispielsweise diese Aufgabe, dass sie immer wieder eine tolle Reportage bringen, wie entsetzlich alles ist. Aber es gibt im Großen keine seriösen Theorieformen oder kulturelle Praktiken, die sich explizit gegen die Ursache des Ganzen richten. Man wird immer noch gesellschaftlich geächtet, wenn man sich tatsächlich über gesellschaftliche Alternativen Gedanken macht. Dann manövriert man sich immer noch ins gesellschaftliche Abseits.

Deswegen werden Gutmenschen immer als uncool angesehen und man macht Witze über sie. Aber was genau verehren wir?

Wir verehren die ungebremste Vitalität, die darwinistische Idee der Gesellschaft. So gesehen haben wir aufgegeben vernünftig menschlich gestalten zu wollen. Damit verehren wir aber auch die Naturburschen, die vitalen Leistungsträger dieser Gesellschaft, die Klonkrieger des Neoliberalismus, die 60, 70, 80, 90 Stunden pro Woche arbeiten, die irre Reichtümer anhäufen. Diese Leute verehren wir. Die Stars, die Supermenschen, die Übermenschen dieser neuer Ordnung. Das ist ein krasser Biologismus und in dieser sozialdarwinistischen Doktrin ist es dann auch legitim, dass es die Opfer gibt.

Wir verehren also nicht nur die Sieger, wir verachten auch die Verlierertypen. Mehr oder weniger offensichtlich. Der Sozialstaat hat mittlerweile diesen stigmatisierenden Zug bekommen: Die, die abhängig werden von Hilfe, werden öffentlich einer Missachtung unterworfen, obwohl ja genau umgekehrt die Verfassungsidee soziale Gleichheit, gleiche Anerkennung und Würde aller ist.

Bildquelle: Travel Oriented / Flickr

Wie prägt diese Haltung unseren Alltag?

Wir opfern unsere Lebensqualität bei dem Versuch, diesen Leistungsansprüchen, die immer größer werden, zu genügen. Wir setzen uns damit selber und gegenseitig unter Druck. Dieser Druck wird kommuniziert: Im Alltag, am Arbeitsplatz, zwischen Freunden und Kollegen als ein Standard, der stets zu erhöhen ist.

Jedes einigermaßen seriöse Fortschrittsprojekt kann nur in der sukzessiven Begrenzung von Arbeitsmengen beruhen. In einem Projekt für Lebensqualität und Gleichheit, in dem man sagt: Wir versuchen diesen Druck der Verhältnisse auf uns abzuschaffen. Stattdessen sind die meisten in einer Spirale der Mehrarbeit gefangen und dieser Stress ist das dominierende Motiv im Alltag. Stress ist das eine, aber das eigentlich dominierende ist ein unglaublich straff durch getakteter Alltag mit einer chronischen Zeitnot. Dann werden die Löhne immer mehr gekürzt, so dass man noch mehr arbeiten muss, für weniger Geld. Die Leute sind abgelenkt, weil sie entweder versuchen, auch verehrt zu werden oder sie sind mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt.

Aber es gibt doch Widerstand?

Ja, aber zu wenig. Wenn wir uns auf das Protestieren als solches begrenzen lassen, ist das eine vormoderne Geste. Es gibt zu wenig geordnete Verfahren der Mitbestimmung, der Beteiligung. Das betrifft Unternehmen, ebenso gut wie alle andern demokratischen Verfahren in allen möglichen Institutionen wie Parteien oder Gewerkschaften in der ganzen Gesellschaft. Ich bin nicht gegen Protest, nur Protest ist zu wenig, weil es in einer Unterwürfigkeitsgeste an die Mächtigen stecken bleiben kann: Ändert doch mal bitte etwas.

Auf die zeitliche Überlastung und die soziale Ungleichheit müssen wir eine systematische und gesellschaftsweite Antwort finden, sonst hüpfen wir vom nächsten Hype zum übernächsten.

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Bildquelle: Patrik Jones / Flickr

Was steht also an?

Ich glaube auf jeden Fall, dass es um die Eroberung des öffentlichen Raums geht. Das ist kein besonders neuer Gedanken. Das ist eine tragende Säule aller avantgardistischer Bewegungen. Egal ob in der Architektur oder in der Kunst im 20. Jahrhundert oder auch schon früher. Es geht immer um die Eroberung des öffentlichen Raums, es geht immer um die Aneignung von etwas, was durch den Staat okkupiert war oder durch private Eigentumsstrukturen okkupuiert war.

Insofern würde ich die Eroberung des Raumes in meiner Ideenwelt mit der Eroberung der Zeit kurzschließen. Der öffentliche Raum ist heute verweist, weil alle entweder shoppen oder arbeiten. Die Idee ‚Wir erobern den öffentlichen Raum‘ heißt, wir geben uns die Zeit und die Möglichkeit und wir suchen eine Agenda, was wir mit dem Raum und der Zeit machen. Das können Demonstrationen sein, politische Vorstellungen, und auch kulturelle Projekte, die mit Sinngenerierung oder Lebensgestaltung zu tun haben. Der öffentliche Raum ist die eine interessante Sache und die andere ist der gemeinsame Raum. Der nicht mehr gespalten ist je nach sozialen Status, nach Klassenverhältnissen, je nach Arbeits- und beruflichen Identitäten oder Geschlechteridentitäten.

Was bekomme ich dafür, dass ich mich um alte Menschen kümmere?

Wir brauchen eine Idee, wie das Leben aussehen könnte. Wie sieht ein Tag aus? Wie sieht eine normale Woche aus, wer macht was, wann? Eigentlich ist unsere Gesellschaftsidee der Hyperaktivität eine Flucht vor dieser Frage. Wer müsste jetzt welche Aufgaben übernehmen und wie viel würde er dafür bekommen? Und bekommen heißt ja einerseits Einkommen und andererseits Anerkennung. Was bekomme ich dafür, dass ich ein Kind groß ziehe? Was bekomme ich dafür, dass ich mich um alte Menschen kümmere, dass ich demonstriere, mich fürs Gemeinwohl einsetze.

In der Regel sind das alles ehrenamtliche Tätigkeiten. Das ist auf Dauer ein Problem, das diese Menschen nicht für diese Art der Arbeit anerkannt werden. Jetzt mal abgesehen davon, dass es ein Armutsrisiko gibt für die, die sich mit solchen Dingen befassen. Die Gesellschaftsmehrheit flüchtet ja aus all diesen Tätigkeiten, in Tätigkeiten, die bezahlt sind, weil man so zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt, nämlich auf der einen Seite kann man Einkünfte erzielen und auf der anderen Seite ist die Anerkennungsfrage notdürftig geregelt.

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Bildquelle: Marco Monetti / Flickr

Was sind Ihre Ideen für dieses andere Leben?

Auch da würde ich sagen, ist die Antwort nicht besonders originell, weil alle diese Fragen uralte emanzipatorische Fragen sind. Die erste Antwort heißt immer: Vielfalt. Man möchte so leben, dass verschiedene Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten im Alltag vorkommen können. Das sie also nicht verschoben werden müssen, auf die Rente, oder auf das Wochenende, oder auf die Ferien, das sind ja die drei Lieblingstechniken mit denen wir versuchen das Problem zu lösen.

Im Alltag muss Platz sein, für all diese Bedürfnisse: Mein Bedürfnisse in meiner Familie oder meinem Freundschaftsverband sich um andere Menschen zu kümmern, muss respektiert sein. Es muss aber genauso mein Bedürfnis respektiert sein, beruflich tätig zu sein und damit Einkünfte zu erzielen, damit ich leben kann. Vielleicht auch noch das Bedürfnis, dass es eine sinnvolle Tätigkeit sein soll. Da hapert es heute sehr stark. Das andere Bedürfnis ist, sinnvoll fürs Gemeinwohl tätig zu sein. Politische Arbeit zu leisten. Und als viertes Bedürfnis: Das kulturelle Sinnbedürfnis, etwas zu tun, womit ich meine Fähigkeiten als denkender Mensch, als fühlender Mensch, befriedige, mich ästhetisch weiterentwickel. Alle diese Bereiche sollten in einem normalen Alltag eigentlich abzudecken sein. Das ist ja kein Hexenwerk.

Das ist kein Geheimnis aber das ist auch wieder ein Problem: Es ist nicht neu.

Es würde nur erfordern, das die gesellschaftliche Konvention der Normalarbeitszeiten im Erwerbsbereich radikal gesenkt wird. Und das sind auch uralte Ideen, die im progressiven Teil der Arbeiterbewegung immer schon diskutiert wurden, egal ob wir das 4- oder 5-Stunden-Tag oder 25-Stunden Woche oder 20-Stunden-Woche nennen. Das sind ganz simple Ideen, die mit der Gestaltung von Raum und Zeit zu tun haben. D.h. die Arbeit soll gerecht auf alle verteilt werden, damit niemand ausgeschlossen, niemand arbeitslos ist und sie soll vor allem so stark reduziert ist, dass alle anderen Lebensbedürfnisse auch noch befriedigt werden können. Das ist kein großes Geheimnis.

Das ist aber auch wieder ein Problem, vor dem sehr viele Intellektuelle Eliten große Angst haben, dass das was sie tun, nicht besonders neu ist. Das gehört ja auch zu den Konventionen des Kulturbetriebs, dass man morgens aufsteht und sagt: Heute erfinde ich die Welt neu. Das hat was mit Innovationszwängen, Betriebszwängen und Fortschrittsideologien zu tun. Das ist eine Erfahrung, die ich sehr oft mache in Diskussionen. Die Leute lächeln dann milde und sagen: Ja, aber das ist doch nicht besonders neu. Ausbuchstabiert, warum das jetzt falsch ist, wird das dann aber nicht.

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Bildquelle

Ist es eigentlich richtig, so weiter zu machen wie bisher?

Das Begehren nach einem besseren Leben hat erheblich nachgelassen. Das heißt man hat sich daran gewöhnt, dass es nicht so toll ist und das man gar nicht so viel zu erwarten hat. Hauptsache dabei sein. Das ist so eine Kriegssymbolik. Opfer bringen für das Gemeinwohl. Für die eigene Rente oder so etwas. Das Wichtigste scheint mir zu sein, auf das Begehren nach einem guten Leben zu insistieren. Ich will ein besseres Leben und ich will es für alle. Wir leben unter Niveau. Das müsste eigentlich jeden Morgen die These von allen sein: Ist es eigentlich richtig, so weiter zu machen wie bisher? Leben wir nicht grotesk unter Niveau? Warum machen wir eigentlich weiter so.

Die größte Schwierigkeit ist, dass Leute, die das versuchen, heute das Risiko einer Marginalisierung tragen müssen. Es ist sehr schwer heute mit interessanten Sachen Geld zu verdienen. Es gibt sehr viele Leute, die an unglaublich interessanten Projekten arbeiten, die sich in ganz fantastischer Weise für eine andere Welt einsetzen im Hier und Jetzt. Die wirklich auch ein tolles Leben haben aber die bezahlen auch ein verdammt hohen Preis. Eigentlich kann man davon nicht leben. Die meisten Leute, die interessante Sachen machen, machen das im Nebenerwerb oder Ehrenamtlich. Wer Geld verdient mit Arbeiten, arbeitet für die Fortsetzung der jetzigen Welt, wird materiell und symbolisch belohnt.

Die ganz einfache Frage lautet: Wollen wir, dass ein bestimmter Typ Mensch heute Karriere macht? Was für Ideen ziehen wir an? Wollen wir diese Form von Normierung von Existenz?

Michael Hirsch – Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen

beim br2 – Zündfunk – Ein Beitrag von: Schnaubelt, Judith, Stand: 15.06.2014

 

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