re:publica 2015: Überwachen und überwacht werden

26 Posted by - 10. Mai 2015 - Protagonisten

Wie gehen wir mit der ständigen Überwachung um? Wie nutzt man Big Data am smartesten? Und wie genau verhält sich das jetzt eigentlich mit der neuen Realität im Netz? Auf der Netzkonferenz re:publica suchten in dieser Woche 850 Speaker aus 60 Ländern ein paar Antworten auf die großen Fragen unserer Zukunftsgesellschaft.

Es ist jedes Jahr dasselbe: Man ist erst einmal ziemlich verwirrt, überfahren fast, betritt man das alljährliche Netzthemen-Wunderland der re:publica in Berlin. Kann schonmal passieren bei 500 Stunden Programm – und vor allem bei dem großen Nebeneinander der Themen, Fragestellungen und Meinungen. Und jedes Mal ärgert man sich dann kurz, wenn man das Gelände unter den U-Bahngleisen am Gleisdreieck wieder mit mehr Fragen verlässt, als man mitgebracht hatte. Dabei ist wahrscheinlich genau das die große Stärke der Konferenz, dass sie in ihrer eigenen Pluralität und Komplexität schon am besten für das Chaos unserer digitalen Gesellschaft steht.

Neues Europa gesucht
Weil die Debatten immer größere Kreise ziehen, hat man in diesem Jahr den Ausgangsradius auch auf der re:publica erweitert: Statt der traditionellen „Rede zur Lage der Nation“ von Deutschlands bekanntestem Blogger Sascha Lobo, machte man sich an die nächstgrößere Herausforderung – „Finding Europe“, so das Motto der rp15. Europa finden also. Irgendwo zwischen politischen Systemen, die noch weit im 20. Jahrhundert feststecken und einem komplettvernetzten Alltag. Zwischen technischem Fortschritt, Wohlstand und Flüchtlingsdebatte. Zwischen Demokratie und Netzzensur. Zwischen Wertegemeinschaft und Identitätsproblem. Und man merkte schnell: Es ist kompliziert. Aber was ist das heute nicht?

„Wir haben eine Menge Mist über das Internet geglaubt“
Los ging’s am Dienstag erstmal mit einer Menge Frust: Ethan Zuckerman, Direktor des MIT Center for Civic Media, fasste ganz unromantisch zusammen, was viele über die frühe Utopien des Freien Internets denken: „We believed really dumb shit about the internet.“ Stattdessen ist das System kaputt – Politiker werden immer unglaubwürdiger, die Wahlbeteiligung sinkt, Aufstände wie Occupy Wall Street versanden. Proteste, sagt Zuckermann, werden in Zukunft immer größer werden, aber viel schwächer: Die Mächtigen haben keine Angst mehr, vor einer Massendemonstration, die man innerhalb weniger Stunden via Facebook und Twitter zusammentrommeln kann. Weil es zu einfach ist, als dass sie eine ernstzunehmende Kraft dahinter vermuten. Aber überhaupt: Die Mächtigen, das sind ja ohnehin längst nicht mehr die Regierenden aus der Politik, sondern die Finanzlenker und Wirtschaftsbosse.

Frust als Chance
Was nach rabenschwarzer Resignation klingt, meint Zuckermann aber ganz anders: In dem neuen Misstrauen ins politische System als „basic state“ sieht er eine große Chance: den Antrieb, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Eigene Produkte auf den Markt zu bringen, die anderen Ansprüchen genügen als der Gewinnmaximierung. Eigene Codes zu programmieren, die sichere Kommunikation gewährleisten. Eigene Lebensentwürfe und Normen zu entwickeln. Und selbst zu überwachen, zu beobachten und zu kontrollieren. Open Data gäbe uns allen die Mittel dazu heute schon in die Hand.

Spy back!
Also nicht mehr „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, sondern „Überwache, was euch überwacht“? Klingt nach einer gutem, vielleicht der besten Idee der diesjährigen re:publica. Wie das zum Beispiel funktionieren kann zeigte Programmierer M. C. McGrath, der sein Projekt ICWatch (https://icwatch.transparencytoolkit.org/) vorstellte, mit dem er Geheimdienste zurücküberwacht – und das mit frei zugänglichen Daten, etwa aus dem Karrierenetzwerk LinkedIn. Was das auf jedem Fall erzeugt, ist, dass sich die Nutzer ein kleines bisschen weniger machtlos, ausgeliefert fühlen, wenn sie Gesichter und Details von NSA-Mitarbeitern kennen. Ein Gefühl, auf dem man aufbauen kann.

Andererseits: woher weiß man, ob wirklich stimmt, was man durch Open Data zu wissen glaubt? Auf diese Frage stieß uns der Journalist und Autor Friedmann Karig in seinem Vortrag „Die Abschaffung der Wahrheit“. Das Problem mit Informationen heutzutage sei ja gar nicht mehr die erschwerte Zugänglichkeit, sondern die erschwerte Festlegung auf eine unumstößliche Wahrheit. Genauso einfach und kostengünstig wie die Wahrheitsfindung sei eben auch die Wahrheitsfälschung oder -verzerrung. Manipulationen, so Karig, erschwerten die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion so sehr, dass man mittlerweile immer besser von mehreren, parallelen Wahrheiten ausginge, als von einer „Superwahrheit“.

Think Data!

Das gute am Netz, sagte Karig, sei aber auch, dass es mit den eigenen Mitteln gegen die komplexitätsreduzierenden Gut-Böse-Wahrheiten von Trollen, Verschwörungstheoretikern und Pegida-Stimmungsmachern kämpfe: durch Open Data. Am besten leiste diese Aufklärungsarbeit immer noch die „Wahrheitsagentur“ Wikipedia.

Man brauche mehr „Think Data“ als nur Big Data, formulierte es Tricia Wang in ihrer Key Note am letzten re:publica-Tag – man brauche mehr smarte Menschen, die mit den Datenmassen, das Richtige anstellen, die mit einem gesunden Maß an Misstrauen gegenüber den kühlen Daten interpretieren und schlussfolgern. Also: Immer schön skeptisch bleiben!

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