Wir Menschen sind merkwürdige Geschöpfte – oder sagen wir, das was Stress, Chaos, Zwang, Leistungsdruck, Optimierungswahn, Bildschirmflimmern und Schnelllebigkeit aus uns machen können. Und gerade wenn, wir mal kurz meinen diese verrückte Welt im Grunde ganz gut zu durchblicken, dreht sich alles auf den Kopf und bürstet unsere Kenntnisbereiche mit wunderschönsten Widersprüchen gegen den Strich.
Wieder einmal hat dieser Wahnsinn einen brandneuen Namen: Prekrastination. Ein fabelhaft, kompliziertes Wort für ein neues (oder neuentdecktes) duseliges, völlig irrationales Verhaltensphänomen.
Und für alle, die jetzt schon gähnen, weil die das Wort der Stunde zu schnell überlesen haben: Nein, ich bin nicht Jahre zu spät dran, um euch was über Prokrastination, das mehr oder weniger krankhafte Aufschieben von Aufgaben, zu erzählen. Es geht um ihren genauen Gegenpol. Um ihre Arbeitstugend und Fleiß vorgaukelnde, aber eigentlich böse, gestörte Schwester.
Die böse Schwester der Aufschieberei
Prekrastination also: der Zwang, Dinge sofort zu erledigen – viel früher und sogar mit mehr Aufwand, als es nötig ist. Lange vor drohenden Deadlines. Ohne triftigen Grund – außer eben den, die geliebten Haken auf der To-Do-Liste machen zu können. Lieber irgendwas machen als nichts. Lieber sofort, als gleich. Rechnungen bezahlen, lange bevor die fällig werden. Mails beantworten, die nicht dringend sind. Der frühe Vogel fängt den Wurm, sagt man. Aber, wie es jetzt ein Artikel im Psychological Science-Journal (zusammengefasst hier) nahelegte, sind auch sie manchmal zu früh dran. Und gerade deswegen, ebenso ineffizient und gestresst wie ihre gegensätzlichen Artverwandten mit dem O in der Vorsilbe.
In dem Artikel geht es um eine Reihe von Verhaltensexperimenten, die Professor David Rosenbaum an der Pennsylvania State University durchführte. Eigentlich sollte es darum gehen, mehr über die Entscheidungsprozesse von Menschen herauszufinden. Dazu sollte die Testpersonen zwischen zwei Aufgaben wählen: Sie sollte einen Gegenstand zu einem Zielpunkt tragen – entweder einen, der nahe ihres Startpunkts stand, oder irgendeinen der anderen, die in unterschiedlichen Abständen über die Strecke verteilt waren (also näher am Zielpunkt). Zur großen Überraschung von Rosenberg griffen die meisten nach dem erstbesten Gegenstand und trugen ihn den ganzen Weg zum Zielpunkt. Und das sogar, wenn diese schwerer waren als die anderen.
Mit anderen Worten: Sie machten sich mehr Mühe, ohne einen benennbaren Nutzen daraus zu ziehen. Aber – und hier beginnt die mehr als zeitdiagnostische Hypothese der Prekrastination – auch wenn sie rein physikalisch mehr Aufwand betrieben als nötig, so entlasteten sie gleichzeitig ihren mentalen Arbeitsspeicher – ihr To-Do-Gedächtnis.
ASAP ist in unser Gehirn gedrungen
Es scheint ganz so, als wären wir in diesem Sinne schon selbst ganz zum Computer geworden, der seine wichtigste Ressource „working memory“ unter allen Umständen zu entlasten versucht. ASAP ist in unser Gehirn geraten. Als Blaupause moderner Technik.
Es macht aus evolutionärer Sicht viel Sinn und klingt doch eher nach merkwürdig, versponnener Informationszeitalter-Dystophie, in der das Gehirn sich der Technik anpasst und nicht mehr andersherum.
Der schneller werdenden Welt hinterherhetzen, um jeden Preis, schnell das eine erledigen, um gleich mit dem nächsten anzufangen – das klingt nach noch mehr Burnout-Fällen, als wir sie jetzt schon haben. Überlastung als Preis des Internet-Kid-Daseins. Das gibt zu denken, finde ich. Und wenn ich überlege, hat das Rotieren unseres Hochgeschwindigkeits-Alltags – alles, überall, jederzeit – auch schon Spuren in meinem „Rechenzentrum“ hinterlassen. Klar versuche auch ich oft, Dinge gleich zu erledigen und nicht liegenzulassen, was sich zu einem bedrohlich großen Aufgabenberg anstauen kann.
Gut, dass ich die andere Hälfte meines Lebens dann doch noch als Prokrastinierer friste. Und ich denke und staune: Dinge aufzuschieben kann, jetzt wo ich um die böse Schwester meiner „Krankheit“ weiß, eben auch bedeuten, die Welt ein wenig auszubremsen. Oder wenigstens mal eine Runde auszusteigen aus dem Karussell. Sich den vielleicht zeitgemäßesten Luxus von allen zu gönnen: Entschleunigung.
Foto: Fokker, E-III, Eindecker (SDASM Archives) via Flickr Commons.
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