• Neneh Cherry 2014 beim Tauron Nowa Muzyka in Katowice, Polen

Was das neue vom alten Pop-Jahr lernen kann

21 Posted by - 14. Januar 2015 - Pop

Natürlich haben wir alle langsam die Nase voll von Jahresrückblicken. Der Kalender sagt es ja schon ein Weile klipp und klar: neues Jahr, neues Glück! Trotzdem stemmen sich die großen, die besten Momente aus dem gerade erst abgelaufenen Pop-Jahr noch mit aller Kraft gegen die ersten Eindrücke 2015. Es gibt wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt für eine kleine, eine endgültige Übergangszeremonie – mit einem Blick in beide Richtungen, zurück und nach vorne: Die drei besten Pop-Momenten des vergangenen Jahres als ultimative Messlatten, die es für alles, was 2015 folgen wird, zu übertreffen gilt. (Und weil wir es zu oft gelesen haben: diesmal auch ohne FKA Twigs, versprochen!)

Neneh Cherry – Göttin im „Tempel of Rave“

Es gibt Konzerte, die man sich als hübsches Andenken an die Weste steckt, weil man eine Platte liebt. Und es gibt Platten, die man liebt, weil sie Erinnerungsstücke an Konzerte sind, deren Zauber man nicht zu vergessen wagt. Und dann sind da ganz selten diese Pop-Momente, in denen alles Schwelgen und Erinnern, Vergewissern und sich neu Verlieben mit aller Wucht zusammenfällt. Blendend helle Momente, wie sie uns dieses Jahr Neneh Cherry an einem Märzabend ins Gedächtnis hämmerte.

Es war das Konzert des Jahres. Mit der wunderbar abenteuerlustigen Minimal Music von „Blank Project“ – das erste Soloalbum seit 1996 und ihre wahrscheinlich radikalste Platte – war die hinreißende Schwedin ins Heiligtum der Berliner Clubkultur eingekehrt: Erst im „Temple of Rave“, wie sie das Berghain begrüßte, hier, in dessen gigantischen, betonkühlen Hallraum offenbarten die Songs ihre ganze spröde Schönheit. Alle erdenklichen Gefühlsnuancen klafften da plötzlichen zwischen den klappernden, zischenden Beatkonstruktionen, Freejazz-Getrommel und Cherrys warmem, eigenwillig näselndem Soulgesang: fiebrige Paranoia und schweißtriefende Euphorie, Gänsehaut und gravitätische Schwermut.

Und damit man es nicht vergaß, erinnerte Cherry „I’m gonna be 50 next week“. Viel könnte sie erzählen über den Großstadt-Soul der Achtziger und Neunziger, den sie miterfunden hat und dessen Sound gerade wieder so angesagt ist. Mit Nostalgie hatte der Besuch der Göttin – der „Inna City Mamma“ – im Tempel aber nichts zu tun. Stattdessen ist sie vom Nineties-Popstar, der sie vielleicht nie so recht sein wollte, wieder zu der Avantgardistin geworden, als die sie einst begonnen hat. Niemand, der diese Frau inmitten des großen Beat-Brausens sah, hatte an diesem Abend noch Angst vor dem nächsten runden Geburtstag – so schön und anmutig sah bei ihr das Altern aus. Wer soll ihr das 2015 nachmachen? Madonna mit ihrer fast panischen Angst vor Falten wird es wohl nicht sein. Einzige aussichtsreiche Kandidatin: Björk, die im Frühling ein neues Album veröffentlichen wird.

Kate Tempest – Street Rap wie Gegenwartslyrik

Noch so ein Album, zum Verrücktwerden beklemmend und trotzdem betörend feinsinnig, kam 2014 von Kate Tempest – der Storytellerin des Jahres. Es war ein Album wie der von Shakespeare entliehene, alles verändernde Sturm ihres Künstlernamens: Nichts, was man seit Mike Skinner über britischen Street Rap zu wissen geglaubt hatte, war mehr dasselbe, als „Everybody Down“ mit all seiner Wortgewalt, mit all den messerscharfen, kühl entrückten Beobachtungen an uns vorübergezogen war. Ein Sturm so elektrisierende wie ein Stück Gegenwartslyrik, von der man die atemlosen, in schönstem Cockney-Englisch vorgetragenen Raps ohnehin nie ganz zu unterscheiden vermochte.

Es sind elegant ineinander verwobene Kurzgeschichten aus dem Alltag einer jungen britischen Generation. Die Protagonisten von Tempest sind Kinder des Prekariats, die irgendwo zwischen Langeweile und Euphorie, Beziehungsängsten und Geldproblemen durch Londons Subkultur taumeln. Derart altmodische Bruchstellen wie gebrochene Herzen werden bei Tempests abgeklärten Helden gar nicht mehr repariert, sondern höchstens notdürftig geflickt.

Wie beim alten Shakespeare geht es zwischen Clubnächten, Drogendeals und schlechtbezahlten Kellnerjobs dann doch um das große Trauerspiel von Liebe und Erlösung: „Life’s to be lived / Not Agreed on“ heißt da eine der zahllosen klugen, wunderbar unsentimentalen Zeilen – das Leben muss man leben, nicht gutheißen. Von welchem Rapper hat man zuletzt solche Lebensweisen serviert bekommen?

Flying Lotus – Verrückt-genialer Beat-Schamane

Und dann war da noch Flying Lotus mit seinem fünften, zweifelsfrei besten, weil wahnsinnigsten Album „You’re Dead!“. Dass es der kalifornische Beat-Produzent, bürgerlich Steven Ellison, es mit dem Titel so gar nicht metaphorisch, sondern ganz ernst meinte, darauf verwies erst nur das Ausrufezeichen und dann ein ungestümer, psychedelisch flackernder Höllenritt: In 19 Tracks und 38 Minuten führt uns der Amerikaner als so wahnsinniger, wie genialer Zeremonienmeister durchs Totenreich – genauer: Durch seine Vorstellung vom Tod als Übergangszone zur nächsten Daseinsform. Mit Betondelta sprach Flying Lotus im Herbst über seine musikalische Totenvision.

Morbide und düster klangen die Stücke mit Namen so abgefahren, fiebertraumhaften Namen wie „Dead Man’s Tetris“ etwa oder „Turkey Dog Coma“ dann aber nur am Rande. Vielmehr ist alles kaleidoskopisch bunt, irrsinnig verzerrt, fremd und berauschend – ganz so wie man sich einen LSD-Trip vorstellt. Sein gigantisches Mash Up-Werk zelebriert Flying Lotus als totalen, als endzeitlichen Exzess. Die Reise in seine dunstige Zwischenwelt von Hip Hop-Beats, Schamanentum und Geister-Prozession, Free Jazz (ein Highlight: die perlenden Pianoimprovisationen von Gaststar Herbie Hancock) und Gebetsglöckchen, Prog Rock und Computerspielen – auch ganz ohne Drogen war sie der irrste Musik-Trip des Jahres!

Immerhin streichelten an dessen Ende tröstende Worte unsere durchgeschüttelte Seele: „We will live on forever and ever“ – irgendwie jedenfalls. Einen schöneres Abschlusswort findet man für 2014 auf die Schnelle nicht: And the world goes on and on an on. Wir sind gespannt, was die Beat-Tüftler diesen Jahr für uns bereithalten.

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